
Tobias Maurer und Prof. Dr. Thomas Vilgis
Zum fünften Ofengespräch habe ich Prof. Dr. Thomas Vilgis zu mir auf die Ofenbank in der Backstube eingeladen. Er ist Professor der Theoretischen Physik und seit 1985 Arbeitsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Polymerforschung. Darüber hinaus hat er sich einen Namen als Genussforscher gemacht. Als solcher widmet er sich der Chemie des Kochens und erforscht die komplexe Welt von Geschmack und Aromen. Auch privat steht er gerne in der Küche und zaubert ausgefallene Genusskombinationen.
Die Wissenschaft kann zwar nicht sagen, ob uns etwas schmeckt oder nicht, sie kann aber zeigen, was uns außerdem noch schmecken könnte. Sein Wissen darüber gibt Thomas Vilgis nicht nur in zahlreichen Büchern und Fachzeitschriften weiter, sondern auch als Dozent. Kennengelernt haben wir uns bei meiner Ausbildung zum Brotsommelier an der Akademie Deutsches Bäckerhandwerk in Weinheim. Es ist mir daher eine ganz besondere Ehre,
ihn heute hier auf der Ofenbank zu haben.
TM: Lieber Thomas. Vielen Dank, dass du die Reise aus Mainz auf dich genommen hast und heute Gast auf meiner Ofenbank bist. Bei meiner Ausbildung zum Brotsommelier waren wir noch per Sie und ich hatte richtig Respekt vor den Anforderungen. Du warst ja schließlich mein Dozent. Aber ganz egal, wie schwierig alles für mich war, deine Ausführungen zur Aromenwelt haben mich sofort fasziniert. Als ich dann meine Abschlussarbeit über das Thema Food-Pairing* mit Brot & Käse geschrieben habe, warst du mit einigen anderen Kollegen Teil meines Expertenforums. Zusammen haben wir uns durch unser Brot-Sortiment probiert und geschaut, welches Brot zu welchem Käse gut passt. Die Ergebnisse waren überraschend, komplex und spannend zugleich.
TV: Ich freue mich, dass ich hier sein kann und nun auch endlich die Backstube kennenlerne, aus der deine tollen Brote stammen. An deine Arbeit erinnere ich mich noch sehr gut. Nicht nur, weil ich selbst Teil des Experten-Forums war, sondern vor allem, weil sie wirklich gut aufbereitet und die Ergebnisse höchst interessant waren. Jedes deiner Brote hatte seinen ganz eigenen Charakter. Einige haben hervorragend zu Käse gepasst. Und bei manchen Broten waren wir ganz schön verzweifelt, überhaupt eine Kombination zu finden, die unserem Geschmack entspricht. Leberwurst z.B. passt eigentlich zu jedem Brot. Bei Käse kann da schon mehr schiefgehen. Das haben wir am eigenen Leibe erfahren.
TM: Und wie! Ich erinnere mich an den Bio-Büffel-Mozzarella. Der wollte einfach zu gar nix passen. Das war schon beeindruckend, dass es so was gibt. Dann haben wir ihn am Schluss mit unserem Grillring und dem Olivenlaible verkostet. Da waren sich alle einig – das passt! Aber eben nur diese eine Kombination. Weißbrote oder Weizenmischbrote, wie zum Beispiel das Bauernbaguette, sind dagegen der ideale Begleiter für fast jede Käsesorte. Bei Roggenbroten wird es wieder etwas schwieriger. Besonders spannend wurde es aber bei den Spezialbroten. Die Gruppe ist durch ihre Vielfalt an Getreidearten, Getreidemischungen oder Spezialinhalten, wie zum Beispiel Nüssen, gerösteten Saaten usw. so breit aufgestellt, dass hier die interessantesten Kombinationen entstanden sind. Das Nussbrot harmoniert mit Bergkäse besonders gut. Oder unser Älbler: Die Kombination mit dem französischen Brie de Meaux fand ich, wie du auch, herausragend. Unsere beiden schwäbischen Gaumen haben die Kombination mit einer 1,5 bewertet. Anders sah das beim fränkischen Kollegen aus. Von ihm gab es eine glatte 6. Dafür haben ihm alle Kombinationen mit dem Frankenlaib geschmeckt, außer eben die mit Büffelmozzarella.
Food Pairing
Food Pairing bezieht sich auf die Kunst und Wissenschaft des Zusammenstellens von Lebensmitteln, um eine harmonische und geschmackvolle Kombination zu erzielen. Beim Pairing werden Lebensmittel und Kräuter mit gleichen Aromen kombiniert, sodass es überlappende Bereiche gibt und der gemeinsame Nenner verstärkt wird. Die Zutaten harmonieren also miteinander. Im Gegensatz dazu steht das Food Completing. Hier wird das Gericht um Gewürze oder Duftstoffe aus unterschiedlichen Gruppen ergänzt. Das Duftspektrum wird dadurch erweitert. Wenn alle Genussparameter stimmig sind, kann man von einem perfekten Flavour-Pairing sprechen. Besonders schmackhafte Arrangements greifen meist auf beides, also Pairing und Completing zurück.
TV: Grund dafür ist die regionale Prägung. Unser Essverhalten wird immer vom eigenen Elternhaus geprägt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder später einmal auch die Dinge mögen, die die Mutter während der Schwangerschaft gegessen hat, ist sehr hoch.
TM: Bei einigen dauert das aber. Meine Liebe zu Spinat habe ich erst recht spät entdeckt. Eine nette Anekdote dazu: Mein Opa und Firmengründer Gottlob Maurer war für seine Sparsamkeit bekannt. Dass seine Kinder gebettelt haben, auch mal als Familie Essen zu gehen, hat überhaupt nicht zu seinem Schwabenherz gepasst. Er wollte ihnen den Wunsch aber auch nicht ausschlagen. Im Restaurant angekommen hat er dann für jeden eine Portion Spinat bestellt. Danach war das Thema „Essengehen“ erst mal gegessen.
TV: Spinat war auch für mich als Kind furchtbar. Säuglinge kennen, wenn sie auf die Welt kommen, erst mal nur zwei Geschmacksrichtungen: süß und umami*. Denn daraus besteht die Muttermilch. Umami ist das, was wir als vollmundig und rund im Mund wahrnehmen. Der Geschmack ist typisch für beispielsweise Fleisch, Käse oder Pilze. In diesem Zusammenhang fällt häufig der Begriff „Glutamat“, welcher bei vielen keinen guten Ruf hat. Dabei handelt es sich nur um das Salz der Glutaminsäure, eine Aminosäure, die durch langes Erhitzen oder Fermentation von Proteinen entsteht. Das passiert zum Beispiel beim Köcheln einer Bolognese. Also etwas, was wir schon immer beim Kochen tun. Wir saugen den Umami-Geschmack schon als Kind auf. Die menschliche Muttermilch hat im Vergleich zu allen tierischen Muttermilchen den höchsten Umami-Anteil. Die anderen drei Geschmacksrichtungen sauer, salzig und bitter müssen wir erst erlernen. Besonders schlimm finden wir Bitterstoffe. Zurecht, denn Bitterstoffe sind Abwehrstoffe von Pflanzen.
TM: Deshalb mögen Kinder helle Backwaren wie zum Beispiel Brezeln so gerne. Die Brezel kommt quasi direkt nach der Muttermilch. Wenn das was uns schmeckt regional geprägt ist, können wir Geschmack dann überhaupt trainieren oder anpassen?
TV: Ich bezeichne mich immer wieder als „Allesfresser“. Ich habe mir antrainiert, alles zu probieren. Das geht mittlerweile so weit, dass ich auch Dinge mag, die die meisten nicht mögen. Ich habe zum Beispiel einen Camembert im Kühlschrank, der dort schon ein paar Jahre liegt. Dadurch hat er ein unglaublich intensives Aroma entwickelt, was sonst zu nichts passt. Die meisten würden den Käse vermutlich nicht mehr anrühren. Auch Brot mag ich besonders gerne, wenn es ganz stark angeröstet ist. Dann entstehen Geruchsstoffe, sogenannte Aromate, mit molekularen Schwänzchen (Phenylpropanoide). Diese Gerüche gehen geschmacklich in Richtung Zimt, Tonka oder Muskat. Himmlisch. Das was uns schmeckt lässt sich also bis zu einem gewissen Grad trainieren. Man muss es nur immer wieder versuchen und sich an neue Dinge heranwagen.
Umami
Umami ist japanisch und bedeutet fleischig, herzhaft, wohlschmeckend. Umami wird durch freie Glutaminsäure erzeugt. Sie entsteht durch Kochen oder Fermentation von Enzymen oder Bakterien. Allgemein bekannter ist das Salz, Glutamat, auch Geschmacksverstärker genannt. Der Name ist jedoch irreführend, da der Geschmack nicht verstärkt wird, sondern die Umami-Rezeptoren angeregt werden. Lang köchelnde Saucen oder stark reduzierte Fonds sind reine Glutamatbomben, ebenso wie die aus Fermentation entstandene Sojasauce. Auch in Parmesan, Zwiebeln oder getrockneten Tomaten kommt Glutamat vor.
TM: Jetzt hast du ja nicht nur deinen Geschmack trainiert, sondern dir auch all das Wissen über Geschmack und Aromen selbst erarbeitet. Ursprünglich bist du promovierter Physiker und warst Professor für die Theoretische Physik an der Universität Mainz. Jetzt beschäftigst du dich auch mit der Welt der Aromen und forschst auf dem Gebiet der weichen Materie, inklusive Lebensmittel. Wie kamst du dazu?
TV: Chemie war für mich immer eine Katastrophe. Beim Physik-Studium in Ulm habe ich meine Chemieprüfung verhauen. Da ist für mich erst mal eine Welt zusammengebrochen. Ich habe dann in Polymerphysik promoviert und angefangen, in einem interdisziplinären Team zu arbeiten. Hier bin ich von der theoretischen zur experimentellen Physik gekommen. Irgendwann ist die Stiftung Warentest auf mich zugekommen. Thomas Vierich, Gastroredakteur, plante ein Buch über Aromen zu schreiben und er brauchte noch jemanden, der das Thema wissenschaftlich begleitet. Ich kannte mich in dem Bereich bis dahin nicht aus und musste mich erst einarbeiten. Aus dem ursprünglich etwas kleiner geplantem Projekt ist ein 500 Seiten schwerer Wälzer geworden und wir haben vier Jahre daran gearbeitet. In der Zeit habe ich ein halbes Chemiediplom abgelegt und gemerkt: So schlimm ist es gar nicht. Im Gegenteil: Ich habe viele spannende Dinge durch Chemie und Biologie gelernt. Zum Beispiel, dass das Entscheidende beim Genuss* oft erst das Zerstören der Zellen ist. Dadurch werden Gerüche und Aromen freigesetzt, die wir dann durch das sogenannte retronasale Riechen wahrnehmen. Einfachstes Beispiel ist hier das Knäckebrot. Sobald man es mit den Händen vor der Nase oder mit den Zähnen im Mund bricht, kommt es zu einer Geruchsexplosion.

TM: Wir waren vor Kurzem bei Harald Kauffmann, einem unserer Maurerkorn-Bauern, unweit von hier auf dem Schmidener Feld. Auf seinen Feldern baut er nicht nur Getreide, sondern auch die Weihnachtsbäume an, die ich jedes Jahr meinen Mitarbeitern schenke. Dort stand eine Colorado-Tanne. Die Nadeln riechen im normalen Zustand praktisch nach nichts. Wenn man sie aber zerbricht und zwischen den Fingern reibt, entsteht ein umwerfend intensiver Duft nach Mandarinen und Zitronen.
TV: Das kann sehr gut sein. Tannennadeln haben viele Terpene. Das sind zitrusartige und kräuterige Aromastoffe. Einige Köche nutzen Tannennadeln auch als regionale Alternative zu Zitronen. Durch das Einlegen in Öl lösen sich diese Aromen und es entsteht ein intensives Zitrus-Öl. Aromen lösen sich am besten in Ölen oder Alkohol. Geschmacksstoffe wie Salz und Zucker hingegen in Wasser. Wir haben letztes Jahr Tannenzweige aus unserer Weihnachtsdeko genutzt und Sellerie damit geräuchert. Das hat hervorragend geschmeckt.
TM: Sellerie aus dem Adventskranz sozusagen. Man unterschätzt häufig, was die Region einem alles bieten kann. Wir setzen beim Einkauf unserer Zutaten auch immer auf regionale Produkte. Aushängeschild ist natürlich unser Maurerkorn, was wir direkt hier auf den Feldern im Rems-Murr-Kreis anbauen. Aber auch die restlichen Zutaten für unsere Backwaren beziehen wir wenn möglich aus der Region. Das ist nicht nur besser fürs Klima, sondern kommt auch der Qualität zugute. Wenn wir mal nicht auf regionale Produkte setzen, dann muss das schon einen sehr guten Grund haben.
TV: Regional einzukaufen ist durchaus bereichernd. Denn das bedeutet auch, dass saisonal gekocht wird. Der Winter kann gar nicht lang genug sein, bis ich Kohl in allen Kombinationen fertig gekocht habe. Neulich haben wir zum Beispiel Romanesco in Würfel geschnitten, angebraten und mit Erdnussbutter kombiniert. Herrlich. Oder: Weißkohl kurz anbraten, Sahne dazu und frische Vanille. Mega. Oder der genialste Lauch, den wir je gegessen haben: einfach in der Pfanne ohne Fett ankokeln, Zimt und Butter dazu, fertig. Ich weiß gar nicht, was man da noch dazu essen kann. Ein Stück Brot wahrscheinlich. Gerne auch getoastet.
Genuss
Beim Essen arbeiten alle unsere Sinne: Augen, Ohren, Tasten, Geruch und Geschmack. Der Genuss fängt schon bei der Optik eines Gerichts an. Farbe und Form spielen eine wichtige Rolle. Es geht weiter beim Hören. Ein Biss in einen knackigen Apfel oder das Brechen eines Brotes kann uns schon das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Beim ersten Bissen spüren wir dann die Textur des Essens, schmecken und riechen. Alle Komponenten haben einen Einfluss darauf, ob uns etwas schmeckt oder nicht.
Genuss setzt sich zusammen aus Geschmack (süß, sauer, salzig, bitter, umami), dem Schmerzreiz (kalt, warm, scharf, beißend …), Aromen und weiteren Eigenschaften wie Textur, Mundfülle oder Temperatur. Obwohl je nach Kultur unterschiedlich gewürzt und abgeschmeckt wird, sind die zugrunde liegenden Regeln des Genusses bei allen Menschen gleich.
TM: Brot geht sowieso immer. Wir toasten bei uns in der Familie mittlerweile auch unheimlich viel. Egal ob das Älbler Steinofenbrot oder ein Sonnenblumenbrot oder natürlich das fluffige Kapselbrot. Dadurch wird die Aromenwelt noch mal eine ganz andere. Das merken wir auch beim Brotbacken selbst. Wir rösten bei uns in der Backstube alle Saaten und Nüsse frisch. Den Unterschied zwischen gerösteten und nicht gerösteten Saaten schmeckt man sofort. Sie bekommen einen nussigen Geruch und wir haben viel mehr Aromen in der Krume.
TV: Da fällt mir direkt noch eine andere gute Kombination ein, die wir vor Kurzem ausprobiert haben: Brot antoasten, und zwar gut toasten, Sahne und Brühe dazu und dann zu einem Püree verarbeiten. Zusammen mit Ziegenkäse und Zitronenpfeffer ist das etwas ganz Besonderes.
TM: Also Brot-Püree habe ich wirklich noch nie probiert, werde ich aber mal. Wie kommst du auf solche Kombinationen?
TV: Meine Gerichte entstehen alle spontan. Ich schaue in den Kühlschrank, sehe die chemischen Moleküle vor mir und weiß, was gut zusammenpasst. Am liebsten koche ich zusammen mit meiner Frau Barbara. Bei uns gibt es abends immer drei Gänge. Sie bereitet meist die Vorspeise zu, ich den Hauptgang und als Nachtisch gibt es gerne auch mal ein Stück Obst, das wir uns dann teilen.
Dabei entsteht immer etwas Neues und Spannendes. Der einzige Nachteil ist: Ich kann Gerichte nie exakt wiederholen.
TM: Leider sehe ich keine chemischen Verbindungen vor mir, wenn ich in den Kühlschrank schaue. Kannst du mir ein paar Tipps geben, wie ich sonst vorgehen kann?
TV: Theoretisch passt fast alles zusammen, wenn das Verhältnis stimmt. Wichtig ist hier, zwischen Geschmack* und Aroma* zu unterscheiden. Geschmack ist das, was wir beim Kauen über unsere Zunge wahrnehmen. Wir kennen fünf Geschmacksrichtungen: süß, salzig, sauer, bitter und umami. Zusätzlich nehmen wir über unseren Schmerznerv (Trigeminusnerv) auch noch Reize wie scharf, heiß, kalt, beißend, prickelnd und adstringierend wahr. Adstringierend ist ein pelziges Gefühl, das zum Beispiel beim Genuss von tanninreichem Rotwein, grünem Tee oder Nussbrot entsteht. Die Basis eines jeden Gerichts ist der Geschmack. Süß und salzig braucht man immer – mal mehr, mal weniger. Wenn dann noch umami ins Spiel kommt, ist das für jedes Gericht gut. Sauer und bitter sollten nicht spitz kombiniert werden, denn die Geschmacksrichtungen vertragen sich nicht gut. Beim Genuss ist es wichtig, dass alle Geschmacksrichtungen ausgewogen sind und gut miteinander harmonieren. Ein Sauerteigbrot ist ein gutes Beispiel. Hier sind alle Geschmacksrichtungen ausgewogen präsent: leichte Süße, Umami durch die lange Fermentation, leichte Bitternoten durch den Proteinabbau und die gebackene Kruste, Säure durch die Lactobacilli und natürlich das Salz des Bäckermeisters. Ist ein Gericht versalzen, zu sauer oder zu süß, kann man es nicht mehr retten. Ich gehe beim Würzen daher immer vorsichtig vor. Nachwürzen kann man immer.
Geschmack
Geschmack oder auch gustatorische Wahrnehmung ist das, was wir beim Essen über unsere Zunge wahrnehmen. Der Geschmack entsteht durch Empfindungen auf der Zunge über die Geschmacksknospen.
Von allen Geschmacksrichtungen empfinden wir süß und umami immer als sehr angenehm. Bei Säuren reicht oft ein kleiner Spritzer, damit die Speise frischer wirkt. Salz steigert den Eigengeschmack der Speisen. Zu starke Bitternoten können den Genuss eines Gerichts zerstören. Ein Gericht empfinden wir dann als ausgewogen, wenn mehrere Geschmacksrichtungen angesprochen werden.
TM: Das ist beim Backen ähnlich. Die Grundlage für ein gutes Brot wird in der Teigmacherei gelegt. Keine Frage. Wenn dein Teig 100%ig stimmt, hast du alle Chancen, dass daraus ein gutes Brot wird. Wenn er jedoch nicht richtig passt, weil er z. B. zu warm oder zu kalt ist, die Knetung nicht richtig war, der Sauerteig nicht ausgewogen ist oder dir der Vorteig aus dem Ruder gelaufen ist, wirst du ganz sicher kein optimales Brot aus dem Ofen holen. Einen missratenen Teig kann man auch nicht mehr retten, man kann nur noch Schadensbegrenzung betreiben. Der große Unterschied zum Kochen ist jedoch, dass wir nicht nachwürzen können. Beim Backen müssen alle Zutaten von Anfang an in die Schüssel. Es muss alles exakt abgewogen werden. Mit nachsalzen, kurz bevor das Brot aus dem Ofen kommt, ist da nix. Deswegen legen wir bei uns in der Backstube auch so viel Wert auf eine handwerklich korrekte Teigherstellung. Jetzt hast du vorher gesagt, der Geschmack sei die Basis. Worauf kommt es beim Würzen noch an?
TV: Die eigentliche Magie entsteht, wenn der Duft, das Aroma ins Spiel kommt. Nur dadurch unterscheidet sich zum Beispiel eine Sojasauce von einem gut reduzierten Fleischfond. Würden wir beides mit zugehaltener Nase probieren, würde es einfach nur nach umami schmecken. Insgesamt gibt es zigtausend Duftstoffe. Bei Lebensmitteln können wir Menschen rund 300 verschiedene Aromen als besonders geruchsaktiv wahrnehmen und pro Gericht ungefähr drei. Aromen lassen sich chemisch in sieben Gruppen einteilen. Jede Gruppe hat ihren eigenen Charakter. Die Gruppen reichen von schwefeligen oder blumigen Aromen, die sich schnell verflüchtigen, bis hin zu schwereren Aromen mit erdigen und tiefen Noten. Beim Würzen kommt es dann darauf an, zu erkennen, wo es noch Lücken gibt und diese gezielt zu schließen. Nehmen wir das Beispiel Brot. Kein Backprozess der Welt kann blumige, harzige oder zitrusartige Aromen in ein Brot bringen. Durch geschickte Kombinationen mit anderen Lebensmitteln können wir diese Lücken schließen. Blumige und zitrusartige Aromen gibt es in Pflanzen. In das Wissen um die Aromenwelt kann man sich natürlich einlesen. Am meisten lernt man aber immer noch, indem man ausprobiert und neue spannende Kombinationen selbst entdeckt. Ich persönlich finde deswegen auch Gewürzmischungen so schwierig, weil man die Aromenwelt hinter den einzelnen Gewürzen gar nicht kennenlernen kann.
Aroma
Das Wort Aroma stammt aus dem Griechischen und bedeutet Gewürz. Wir Menschen aromatisieren Lebensmittel bereits seit der Urgeschichte. Eines der ersten Methoden war vermutlich das Räuchern. Aromen sind chemische Verbindungen, die wir über unseren Geruchssinn wahrnehmen. Sie sind elementarer Bestandteil für unser Genussempfinden. Aromen kommen auf natürliche Weise in Lebensmitteln, wie zum Beispiel Kräutern, vor. Sie können aber auch durch chemische Prozesse wie dem Rösten oder Braten gebildet werden. Durch das gezielte Einsetzen von Aromen können wir unseren Gerichten eine ganz eigene Note verleihen. Die meisten Duftstoffe, die wir wahrnehmen, nutzen Pflanzen entweder als Sexuallockstoff oder als Waffe gegen Fressfeinde. Oftmals reichen nur winzige Mengen eines Duftstoffes aus, um eine große Veränderung zu erzielen. Tipp: Da Aromen flüchtig sind, sollten Gewürze immer ganz gelagert werden. Auch gilt die Faustregel: Je flüchtiger ein Aromastoff, desto weniger sollte er erhitzt werden. Aromen nehmen wir beim Essen über das retronasale Riechen wahr. Die flüchtigen Aromen gelangen aus der Mundhöhle über den Rachenraum zu den Rezeptoren im Nasenraum. Wir haben insgesamt 10 Millionen Geruchssinnzellen mit 400 verschiedenen Rezeptoren.
TM: Gab es bei deinen Kochexperimenten auch mal etwas, was dir nicht geschmeckt hat?
TV: Wie gesagt, ich bin eigentlich ein „Allesfresser“. Wobei ich mich einmal an ein Experiment gewagt habe, was mir gar nicht gemundet hat. Ich habe mir eine Fertigpizza in den Ofen geschoben. Zu stark verarbeitete Lebensmittel sind nicht gut für uns. Sie werden im Körper anders verarbeitet und die Nährstoffe kommen nicht dort an, wo sie hingehören. Aus diesem Grund bin ich auch kein Fan von Nahrungsergänzungsmitteln. Statt einer Zink-Tablette esse ich lieber etwas Hühnerfleisch. Der beste Vitamin-D-Lieferant ist immer noch die Fischleber. Wenn man täglich etwas Rohes, Gekochtes und Fermentiertes auf dem Teller hat, werden alle wichtigen Nährstoffe abgedeckt.
TM: Wir setzen auch ganz bewusst auf natürliche und unverarbeitete Lebensmittel. In unser Älbler kommt zum Beispiel nur Mehl, Wasser, Hefe und Quellsalz. Dazu unser eigener Sauerteig und der gut ausgereifte Dinkelvorteig. Unseren Roggen, Weizen, Dinkel oder Hafer flocken wir in der Backstube unmittelbar vor der Teigbereitung frisch. Damit ist gewährleistet, dass die Nährstoffe und Aromen erhalten bleiben. Koch- und Aromastücke sorgen für eine handwerkliche und natürliche Frischhaltung. Dafür brauchen wir keine künstlichen Backhilfsmittel. Wir setzen Sauerteig und Vorteige an und rösten alle Saaten und Körner selbst. Das ist auch das, was wir unter handwerklichem Backen verstehen: einfach ein respektvoller Umgang mit den Rohstoffen. Heutzutage haben wir hier auch ganz andere Möglichkeiten als noch mein Großvater. Vermutlich backen wir trotz aller technischer Unterstützung mindestens so traditionell wie mein Opa vor fast hundert Jahren.

TV: Bestimmt. Und auch das Wissen hat sich ja mittlerweile weiterentwickelt. Wobei ich als Wissenschaftler eingestehen muss, dass Wissen alleine manchmal nicht ausreicht. Ich könnte noch so viel übers Backen lernen und werde vermutlich trotzdem kein guter Bäcker. Mir ist schon der eine oder andere Rührkuchen missglückt. Da bleibe ich lieber beim Kochen.
TM: Keine Sorge. Das Backen übernehmen wir gerne für dich. Vielen Dank lieber Thomas, dass du dir die Zeit genommen hast und heute mein Gast hier auf der Ofenbank warst. Ich bin immer wieder beeindruckt von der großen Welt der Aromen und der Art, wie du davon berichten kannst. Dankeschön!
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