Tobias Maurer und Prof. Dr. Thomas Vilgis

Zum fünf­ten Ofen­ge­spräch habe ich Prof. Dr. Thomas Vilgis zu mir auf die Ofen­bank in der Back­stube einge­la­den. Er ist Profes­sor der Theo­re­ti­schen Physik und seit 1985 Arbeits­grup­pen­lei­ter am Max-Planck-Insti­tut für Poly­mer­for­schung. Darüber hinaus hat er sich einen Namen als Genuss­for­scher gemacht. Als solcher widmet er sich der Chemie des Kochens und erforscht die komplexe Welt von Geschmack und Aromen. Auch privat steht er gerne in der Küche und zaubert ausge­fal­lene Genuss­kom­bi­na­tio­nen.

Die Wissen­schaft kann zwar nicht sagen, ob uns etwas schmeckt oder nicht, sie kann aber zeigen, was uns außer­dem noch schme­cken könnte. Sein Wissen darüber gibt Thomas Vilgis nicht nur in zahl­rei­chen Büchern und Fach­zeit­schrif­ten weiter, sondern auch als Dozent. Kennen­ge­lernt haben wir uns bei meiner Ausbil­dung zum Brot­som­me­lier an der Akade­mie Deut­sches Bäcker­hand­werk in Wein­heim. Es ist mir daher eine ganz beson­dere Ehre,
ihn heute hier auf der Ofen­bank zu haben.

TM: Lieber Thomas. Vielen Dank, dass du die Reise aus Mainz auf dich genom­men hast und heute Gast auf meiner Ofen­bank bist. Bei meiner Ausbil­dung zum Brot­som­me­lier waren wir noch per Sie und ich hatte rich­tig Respekt vor den Anfor­de­run­gen. Du warst ja schließ­lich mein Dozent. Aber ganz egal, wie schwie­rig alles für mich war, deine Ausfüh­run­gen zur Aromen­welt haben mich sofort faszi­niert. Als ich dann meine Abschluss­ar­beit über das Thema Food-Pairing* mit Brot & Käse geschrie­ben habe, warst du mit eini­gen ande­ren Kolle­gen Teil meines Exper­ten­fo­rums. Zusam­men haben wir uns durch unser Brot-Sorti­ment probiert und geschaut, welches Brot zu welchem Käse gut passt. Die Ergeb­nisse waren über­ra­schend, komplex und span­nend zugleich.

TV: Ich freue mich, dass ich hier sein kann und nun auch endlich die Back­stube kennen­lerne, aus der deine tollen Brote stam­men. An deine Arbeit erin­nere ich mich noch sehr gut. Nicht nur, weil ich selbst Teil des Exper­ten-Forums war, sondern vor allem, weil sie wirk­lich gut aufbe­rei­tet und die Ergeb­nisse höchst inter­es­sant waren. Jedes deiner Brote hatte seinen ganz eige­nen Charak­ter. Einige haben hervor­ra­gend zu Käse gepasst. Und bei manchen Broten waren wir ganz schön verzwei­felt, über­haupt eine Kombi­na­tion zu finden, die unse­rem Geschmack entspricht. Leber­wurst z.B. passt eigent­lich zu jedem Brot. Bei Käse kann da schon mehr schief­ge­hen. Das haben wir am eige­nen Leibe erfah­ren.

TM: Und wie! Ich erin­nere mich an den Bio-Büffel-Mozza­rella. Der wollte einfach zu gar nix passen. Das war schon beein­dru­ckend, dass es so was gibt. Dann haben wir ihn am Schluss mit unse­rem Grill­ring und dem Oliven­lai­ble verkos­tet. Da waren sich alle einig – das passt! Aber eben nur diese eine Kombi­na­tion. Weiß­brote oder Weizen­misch­brote, wie zum Beispiel das Bauern­baguette, sind dage­gen der ideale Beglei­ter für fast jede Käse­sorte. Bei Roggen­bro­ten wird es wieder etwas schwie­ri­ger. Beson­ders span­nend wurde es aber bei den Spezi­al­bro­ten. Die Gruppe ist durch ihre Viel­falt an Getrei­de­ar­ten, Getrei­de­mi­schun­gen oder Spezi­al­in­hal­ten, wie zum Beispiel Nüssen, gerös­te­ten Saaten usw. so breit aufge­stellt, dass hier die inter­es­san­tes­ten Kombi­na­tio­nen entstan­den sind. Das Nuss­brot harmo­niert mit Berg­käse beson­ders gut. Oder unser Älbler: Die Kombi­na­tion mit dem fran­zö­si­schen Brie de Meaux fand ich, wie du auch, heraus­ra­gend. Unsere beiden schwä­bi­schen Gaumen haben die Kombi­na­tion mit einer 1,5 bewer­tet. Anders sah das beim frän­ki­schen Kolle­gen aus. Von ihm gab es eine glatte 6. Dafür haben ihm alle Kombi­na­tio­nen mit dem Fran­ken­laib geschmeckt, außer eben die mit Büffel­moz­za­rella.

Food Pairing

Food Pairing bezieht sich auf die Kunst und Wissen­schaft des Zusam­men­stel­lens von Lebens­mit­teln, um eine harmo­ni­sche und geschmack­volle Kombi­na­tion zu erzie­len. Beim Pairing werden Lebens­mit­tel und Kräu­ter mit glei­chen Aromen kombi­niert, sodass es über­lap­pende Berei­che gibt und der gemein­same Nenner verstärkt wird. Die Zuta­ten harmo­nie­ren also mitein­an­der. Im Gegen­satz dazu steht das Food Comple­ting. Hier wird das Gericht um Gewürze oder Duft­stoffe aus unter­schied­li­chen Grup­pen ergänzt. Das Duft­spek­trum wird dadurch erwei­tert. Wenn alle Genuss­pa­ra­me­ter stim­mig sind, kann man von einem perfek­ten Flavour-Pairing spre­chen. Beson­ders schmack­hafte Arran­ge­ments grei­fen meist auf beides, also Pairing und Comple­ting zurück.

TV: Grund dafür ist die regio­nale Prägung. Unser Essver­hal­ten wird immer vom eige­nen Eltern­haus geprägt. Die Wahr­schein­lich­keit, dass Kinder später einmal auch die Dinge mögen, die die Mutter während der Schwan­ger­schaft geges­sen hat, ist sehr hoch.

TM: Bei eini­gen dauert das aber. Meine Liebe zu Spinat habe ich erst recht spät entdeckt. Eine nette Anek­dote dazu: Mein Opa und Firmen­grün­der Gott­lob Maurer war für seine Spar­sam­keit bekannt. Dass seine Kinder gebet­telt haben, auch mal als Fami­lie Essen zu gehen, hat über­haupt nicht zu seinem Schwa­ben­herz gepasst. Er wollte ihnen den Wunsch aber auch nicht ausschla­gen. Im Restau­rant ange­kom­men hat er dann für jeden eine Portion Spinat bestellt. Danach war das Thema „Essen­ge­hen“ erst mal geges­sen.

TV: Spinat war auch für mich als Kind furcht­bar. Säug­linge kennen, wenn sie auf die Welt kommen, erst mal nur zwei Geschmacks­rich­tun­gen: süß und umami*. Denn daraus besteht die Mutter­milch. Umami ist das, was wir als voll­mun­dig und rund im Mund wahr­neh­men. Der Geschmack ist typisch für beispiels­weise Fleisch, Käse oder Pilze. In diesem Zusam­men­hang fällt häufig der Begriff „Glut­amat“, welcher bei vielen keinen guten Ruf hat. Dabei handelt es sich nur  um das Salz der Glut­amin­säure, eine Amino­säure, die durch langes Erhit­zen oder Fermen­ta­tion von Prote­inen entsteht. Das passiert zum Beispiel beim Köcheln einer Bolo­gnese.  Also etwas, was wir schon immer beim Kochen tun. Wir saugen den Umami-Geschmack schon als Kind auf. Die mensch­li­che Mutter­milch hat im Vergleich zu allen tieri­schen Mutter­mil­chen den höchs­ten Umami-Anteil. Die ande­ren drei Geschmacks­rich­tun­gen sauer, salzig und bitter müssen wir erst erler­nen. Beson­ders schlimm finden wir Bitter­stoffe. Zurecht, denn Bitter­stoffe sind Abwehr­stoffe von Pflan­zen.

TM: Deshalb mögen Kinder helle Back­wa­ren wie zum Beispiel Brezeln so gerne. Die Brezel kommt quasi direkt nach der Mutter­milch. Wenn das was uns schmeckt regio­nal geprägt ist, können wir Geschmack dann über­haupt trai­nie­ren oder anpas­sen?

TV: Ich bezeichne mich immer wieder als „Alles­fres­ser“. Ich habe mir antrai­niert, alles zu probie­ren. Das geht mitt­ler­weile so weit, dass ich auch Dinge mag, die die meis­ten nicht mögen. Ich habe zum Beispiel einen Camem­bert im Kühl­schrank, der dort schon ein paar Jahre liegt. Dadurch hat er ein unglaub­lich inten­si­ves Aroma entwi­ckelt, was sonst zu nichts passt. Die meis­ten würden den Käse vermut­lich nicht mehr anrüh­ren. Auch Brot mag ich beson­ders gerne, wenn es ganz stark ange­rös­tet ist. Dann entste­hen Geruchs­stoffe, soge­nannte Aromate, mit mole­ku­la­ren Schwänz­chen (Phenyl­pro­pano­ide). Diese Gerü­che gehen geschmack­lich in Rich­tung Zimt, Tonka oder Muskat. Himm­lisch. Das was uns schmeckt lässt sich also bis zu einem gewis­sen Grad trai­nie­ren. Man muss es nur immer wieder versu­chen und sich an neue Dinge heran­wa­gen.

Umami

Umami ist japa­nisch und bedeu­tet flei­schig, herz­haft, wohl­schme­ckend. Umami wird durch freie Glut­amin­säure erzeugt. Sie entsteht durch Kochen oder Fermen­ta­tion von Enzy­men oder Bakte­rien. Allge­mein bekann­ter ist das Salz, Glut­amat, auch Geschmacks­ver­stär­ker genannt. Der Name ist jedoch irre­füh­rend, da der Geschmack nicht verstärkt wird, sondern die Umami-Rezep­to­ren ange­regt werden. Lang köchelnde Saucen oder stark redu­zierte Fonds sind reine Glut­amat­bom­ben, ebenso wie die aus Fermen­ta­tion entstan­dene Soja­sauce. Auch in Parme­san, Zwie­beln oder getrock­ne­ten Toma­ten kommt Glut­amat vor.

TM: Jetzt hast du ja nicht nur deinen Geschmack trai­niert, sondern dir auch all das Wissen über Geschmack und Aromen selbst erar­bei­tet. Ursprüng­lich bist du promo­vier­ter Physi­ker und warst Profes­sor für die Theo­re­ti­sche Physik an der Univer­si­tät Mainz. Jetzt beschäf­tigst du dich auch mit der Welt der Aromen und forschst auf dem Gebiet der weichen Mate­rie, inklu­sive Lebens­mit­tel. Wie kamst du dazu?

TV: Chemie war für mich immer eine Kata­stro­phe. Beim Physik-Studium in Ulm habe ich meine Chemie­prü­fung verhauen. Da ist für mich erst mal eine Welt zusam­men­ge­bro­chen. Ich habe dann in Poly­mer­phy­sik promo­viert und ange­fan­gen, in einem inter­dis­zi­pli­nä­ren Team zu arbei­ten. Hier bin ich von der theo­re­ti­schen zur expe­ri­men­tel­len Physik gekom­men. Irgend­wann ist die Stif­tung Waren­test auf mich zuge­kom­men. Thomas Vierich, Gastro­re­dak­teur, plante ein Buch über Aromen zu schrei­ben und er brauchte noch jeman­den, der das Thema wissen­schaft­lich beglei­tet. Ich kannte mich in dem Bereich bis dahin nicht aus und musste mich erst einar­bei­ten. Aus dem ursprüng­lich etwas klei­ner geplan­tem Projekt ist ein 500 Seiten schwe­rer Wälzer gewor­den und wir haben vier Jahre daran gear­bei­tet. In der Zeit habe ich ein halbes Chemie­di­plom abge­legt und gemerkt: So schlimm ist es gar nicht. Im Gegen­teil: Ich habe viele span­nende Dinge durch Chemie und Biolo­gie gelernt. Zum Beispiel, dass das Entschei­dende beim Genuss* oft erst das Zerstö­ren der Zellen ist. Dadurch werden Gerü­che und Aromen frei­ge­setzt, die wir dann durch das soge­nannte retro­nasale Riechen wahr­neh­men. Einfachs­tes Beispiel ist hier das Knäcke­brot. Sobald man es mit den Händen vor der Nase oder mit den Zähnen im Mund bricht, kommt es zu einer Geruchs­explo­sion.

TM: Wir waren vor Kurzem bei Harald Kauff­mann, einem unse­rer Maurer­korn-Bauern, unweit von hier auf dem Schmi­de­ner Feld. Auf seinen Feldern baut er nicht nur Getreide, sondern auch die Weih­nachts­bäume an, die ich jedes Jahr meinen Mitar­bei­tern schenke. Dort stand eine Colo­rado-Tanne. Die Nadeln riechen im norma­len Zustand prak­tisch nach nichts. Wenn man sie aber zerbricht und zwischen den Fingern reibt, entsteht ein umwer­fend inten­si­ver Duft nach Manda­rinen und Zitro­nen.

TV: Das kann sehr gut sein. Tannen­na­deln haben viele Terpene. Das sind zitrus­ar­tige und kräu­te­rige Aroma­stoffe. Einige Köche nutzen Tannen­na­deln auch als regio­nale Alter­na­tive zu Zitro­nen. Durch das Einle­gen in Öl lösen sich diese Aromen und es entsteht ein inten­si­ves Zitrus-Öl. Aromen lösen sich am besten in Ölen oder Alko­hol. Geschmacks­stoffe wie Salz und Zucker hinge­gen in Wasser. Wir haben letz­tes Jahr Tannen­zweige aus unse­rer Weih­nachts­deko genutzt und Selle­rie damit geräu­chert. Das hat hervor­ra­gend geschmeckt.

TM: Selle­rie aus dem Advents­kranz sozu­sa­gen. Man unter­schätzt häufig, was die Region einem alles bieten kann. Wir setzen beim Einkauf unse­rer Zuta­ten auch immer auf regio­nale Produkte. Aushän­ge­schild ist natür­lich unser Maurer­korn, was wir direkt hier auf den Feldern im Rems-Murr-Kreis anbauen. Aber auch die rest­li­chen Zuta­ten für unsere Back­wa­ren bezie­hen wir wenn möglich aus der Region. Das ist nicht nur besser fürs Klima, sondern kommt auch der Quali­tät zugute. Wenn wir mal nicht auf regio­nale Produkte setzen, dann muss das schon einen sehr guten Grund haben.

TV: Regio­nal einzu­kau­fen ist durch­aus berei­chernd. Denn das bedeu­tet auch, dass saiso­nal gekocht wird. Der Winter kann gar nicht lang genug sein, bis ich Kohl in allen Kombi­na­tio­nen fertig gekocht habe. Neulich haben wir zum Beispiel Roma­nesco in Würfel geschnit­ten, ange­bra­ten und mit Erdnuss­but­ter kombi­niert. Herr­lich. Oder: Weiß­kohl kurz anbra­ten, Sahne dazu und frische Vanille. Mega. Oder der geni­alste Lauch, den wir je geges­sen haben: einfach in der Pfanne ohne Fett anko­keln, Zimt und Butter dazu, fertig. Ich weiß gar nicht, was man da noch dazu essen kann. Ein Stück Brot wahr­schein­lich. Gerne auch getoas­tet.

Genuss

Beim Essen arbei­ten alle unsere Sinne: Augen, Ohren, Tasten, Geruch und Geschmack. Der Genuss fängt schon bei der Optik eines Gerichts an. Farbe und Form spie­len eine wich­tige Rolle. Es geht weiter beim Hören. Ein Biss in einen knacki­gen Apfel oder das Brechen eines Brotes kann uns schon das Wasser im Mund zusam­men­lau­fen lassen. Beim ersten Bissen spüren wir dann die Textur des Essens, schme­cken und riechen. Alle Kompo­nen­ten haben einen Einfluss darauf, ob uns etwas schmeckt oder nicht.

Genuss setzt sich zusam­men aus Geschmack (süß, sauer, salzig, bitter, umami), dem Schmerz­reiz (kalt, warm, scharf, beißend …), Aromen und weite­ren Eigen­schaf­ten wie Textur, Mund­fülle oder Tempe­ra­tur. Obwohl je nach Kultur unter­schied­lich gewürzt und abge­schmeckt wird, sind die zugrunde liegen­den Regeln des Genus­ses bei allen Menschen gleich.

TM: Brot geht sowieso immer. Wir toas­ten bei uns in der Fami­lie mitt­ler­weile auch unheim­lich viel. Egal ob das Älbler Stein­ofen­brot oder ein Sonnen­blu­men­brot oder natür­lich das fluf­fige Kapsel­brot. Dadurch wird die Aromen­welt noch mal eine ganz andere. Das merken wir auch beim Brot­ba­cken selbst. Wir rösten bei uns in der Back­stube alle Saaten und Nüsse frisch. Den Unter­schied zwischen gerös­te­ten und nicht gerös­te­ten Saaten schmeckt man sofort. Sie bekom­men einen nussi­gen Geruch und wir haben viel mehr Aromen in der Krume.

TV: Da fällt mir direkt noch eine andere gute Kombi­na­tion ein, die wir vor Kurzem auspro­biert haben: Brot antoas­ten, und zwar gut toas­ten, Sahne und Brühe dazu und dann zu einem Püree verar­bei­ten. Zusam­men mit Ziegen­käse und Zitro­nen­pfef­fer ist das etwas ganz Beson­de­res.

TM: Also Brot-Püree habe ich wirk­lich noch nie probiert, werde ich aber mal. Wie kommst du auf solche Kombi­na­tio­nen?

TV: Meine Gerichte entste­hen alle spon­tan. Ich schaue in den Kühl­schrank, sehe die chemi­schen Mole­küle vor mir und weiß, was gut zusam­men­passt. Am liebs­ten koche ich zusam­men mit meiner Frau Barbara. Bei uns gibt es abends immer drei Gänge. Sie berei­tet meist die Vorspeise zu, ich den Haupt­gang und als Nach­tisch gibt es gerne auch mal ein Stück Obst, das wir uns dann teilen.
Dabei entsteht immer etwas Neues und Span­nen­des. Der einzige Nach­teil ist: Ich kann Gerichte nie exakt wieder­ho­len.

TM: Leider sehe ich keine chemi­schen Verbin­dun­gen vor mir, wenn ich in den Kühl­schrank schaue. Kannst du mir ein paar Tipps geben, wie ich sonst vorge­hen kann?

TV: Theo­re­tisch passt fast alles zusam­men, wenn das Verhält­nis stimmt. Wich­tig ist hier, zwischen Geschmack* und Aroma* zu unter­schei­den. Geschmack ist das, was wir beim Kauen über unsere Zunge wahr­neh­men. Wir kennen fünf Geschmacks­rich­tun­gen: süß, salzig, sauer, bitter und umami. Zusätz­lich nehmen wir über unse­ren Schmerz­nerv (Trige­mi­nus­nerv) auch noch Reize wie scharf, heiß, kalt, beißend, prickelnd und adstrin­gie­rend wahr. Adstrin­gie­rend ist ein pelzi­ges Gefühl, das zum Beispiel beim Genuss von tannin­rei­chem Rotwein, grünem Tee oder Nuss­brot entsteht. Die Basis eines jeden Gerichts ist der Geschmack. Süß und salzig braucht man immer – mal mehr, mal weni­ger. Wenn dann noch umami ins Spiel kommt, ist das für jedes Gericht gut. Sauer und bitter soll­ten nicht spitz kombi­niert werden, denn die Geschmacks­rich­tun­gen vertra­gen sich nicht gut. Beim Genuss ist es wich­tig, dass alle Geschmacks­rich­tun­gen ausge­wo­gen sind und gut mitein­an­der harmo­nie­ren. Ein Sauer­teig­brot ist ein gutes Beispiel. Hier sind alle Geschmacks­rich­tun­gen ausge­wo­gen präsent: leichte Süße, Umami durch die lange Fermen­ta­tion, leichte Bitter­no­ten durch den Prote­in­ab­bau und die geba­ckene Kruste, Säure durch die Lacto­ba­cilli und natür­lich das Salz des Bäcker­meis­ters. Ist ein Gericht versal­zen, zu sauer oder zu süß, kann man es nicht mehr retten. Ich gehe beim Würzen daher immer vorsich­tig vor. Nach­wür­zen kann man immer.

Geschmack

Geschmack oder auch gust­a­to­ri­sche Wahr­neh­mung ist das, was wir beim Essen über unsere Zunge wahr­neh­men. Der Geschmack entsteht durch Empfin­dun­gen auf der Zunge über die Geschmacks­knos­pen.

Von allen Geschmacks­rich­tun­gen empfin­den wir süß und umami immer als sehr ange­nehm. Bei Säuren reicht oft ein klei­ner Sprit­zer, damit die Speise frischer wirkt. Salz stei­gert den Eigen­ge­schmack der Spei­sen. Zu starke Bitter­no­ten können den Genuss eines Gerichts zerstö­ren. Ein Gericht empfin­den wir dann als ausge­wo­gen, wenn mehrere Geschmacks­rich­tun­gen ange­spro­chen werden.

TM: Das ist beim Backen ähnlich. Die Grund­lage für ein gutes Brot wird in der Teig­ma­che­rei gelegt. Keine Frage. Wenn dein Teig 100%ig stimmt, hast du alle Chan­cen, dass daraus ein gutes Brot wird. Wenn er jedoch nicht rich­tig passt, weil er z. B. zu warm oder zu kalt ist, die Knetung nicht rich­tig war, der Sauer­teig nicht ausge­wo­gen ist oder dir der Vorteig aus dem Ruder gelau­fen ist, wirst du ganz sicher kein opti­ma­les Brot aus dem Ofen holen. Einen miss­ra­te­nen Teig kann man auch nicht mehr retten, man kann nur noch Scha­dens­be­gren­zung betrei­ben. Der große Unter­schied zum Kochen ist jedoch, dass wir nicht nach­wür­zen können. Beim Backen müssen alle Zuta­ten von Anfang an in die Schüs­sel. Es muss alles exakt abge­wo­gen werden. Mit nach­sal­zen, kurz bevor das Brot aus dem Ofen kommt, ist da nix. Deswe­gen legen wir bei uns in der Back­stube auch so viel Wert auf eine hand­werk­lich korrekte Teig­her­stel­lung. Jetzt hast du vorher gesagt, der Geschmack sei die Basis. Worauf kommt es beim Würzen noch an?

TV: Die eigent­li­che Magie entsteht, wenn der Duft, das Aroma ins Spiel kommt. Nur dadurch unter­schei­det sich zum Beispiel eine Soja­sauce von einem gut redu­zier­ten Fleisch­fond. Würden wir beides mit zuge­hal­te­ner Nase probie­ren, würde es einfach nur nach umami schme­cken. Insge­samt gibt es zigtau­send Duft­stoffe. Bei Lebens­mit­teln können wir Menschen rund 300 verschie­dene Aromen als beson­ders geruchs­ak­tiv wahr­neh­men und pro Gericht unge­fähr drei. Aromen lassen sich chemisch in sieben Grup­pen eintei­len. Jede Gruppe hat ihren eige­nen Charak­ter. Die Grup­pen reichen von schwe­fe­li­gen oder blumi­gen Aromen, die sich schnell verflüch­ti­gen, bis hin zu schwe­re­ren Aromen mit erdi­gen und tiefen Noten. Beim Würzen kommt es dann darauf an, zu erken­nen, wo es noch Lücken gibt und diese gezielt zu schlie­ßen. Nehmen wir das Beispiel Brot. Kein Back­pro­zess der Welt kann blumige, harzige oder zitrus­ar­tige Aromen in ein Brot brin­gen. Durch geschickte Kombi­na­tio­nen mit ande­ren Lebens­mit­teln können wir diese Lücken schlie­ßen. Blumige und zitrus­ar­tige Aromen gibt es in Pflan­zen. In das Wissen um die Aromen­welt kann man sich natür­lich einle­sen. Am meis­ten lernt man aber immer noch, indem man auspro­biert und neue span­nende Kombi­na­tio­nen selbst entdeckt. Ich persön­lich finde deswe­gen auch Gewürz­mi­schun­gen so schwie­rig, weil man die Aromen­welt hinter den einzel­nen Gewür­zen gar nicht kennen­ler­nen kann.

Aroma

Das Wort Aroma stammt aus dem Grie­chi­schen und bedeu­tet Gewürz. Wir Menschen aroma­ti­sie­ren Lebens­mit­tel bereits seit der Urge­schichte. Eines der ersten Metho­den war vermut­lich das Räuchern. Aromen sind chemi­sche Verbin­dun­gen, die wir über unse­ren Geruchs­sinn wahr­neh­men. Sie sind elemen­ta­rer Bestand­teil für unser Genuss­emp­fin­den. Aromen kommen auf natür­li­che Weise in Lebens­mit­teln, wie zum Beispiel Kräu­tern, vor. Sie können aber auch durch chemi­sche Prozesse wie dem Rösten oder Braten gebil­det werden. Durch das gezielte Einset­zen von Aromen können wir unse­ren Gerich­ten eine ganz eigene Note verlei­hen. Die meis­ten Duft­stoffe, die wir wahr­neh­men, nutzen Pflan­zen entwe­der als Sexu­al­lo­ck­stoff oder als Waffe gegen Fress­feinde. Oftmals reichen nur winzige Mengen eines Duft­stof­fes aus, um eine große Verän­de­rung zu erzie­len. Tipp: Da Aromen flüch­tig sind, soll­ten Gewürze immer ganz gela­gert werden. Auch gilt die Faust­re­gel: Je flüch­ti­ger ein Aroma­stoff, desto weni­ger sollte er erhitzt werden. Aromen nehmen wir beim Essen über das retro­nasale Riechen wahr. Die flüch­ti­gen Aromen gelan­gen aus der Mund­höhle über den Rachen­raum zu den Rezep­to­ren im Nasen­raum. Wir haben insge­samt 10 Millio­nen Geruchs­sinn­zel­len mit 400 verschie­de­nen Rezep­to­ren.

TM: Gab es bei deinen Koch­ex­pe­ri­men­ten auch mal etwas, was dir nicht geschmeckt hat?

TV: Wie gesagt, ich bin eigent­lich ein „Alles­fres­ser“. Wobei ich mich einmal an ein Expe­ri­ment gewagt habe, was mir gar nicht gemun­det hat. Ich habe mir eine Fertig­pizza in den Ofen gescho­ben. Zu stark verar­bei­tete Lebens­mit­tel sind nicht gut für uns. Sie werden im Körper anders verar­bei­tet und die Nähr­stoffe kommen nicht dort an, wo sie hinge­hö­ren. Aus diesem Grund bin ich auch kein Fan von Nahrungs­er­gän­zungs­mit­teln. Statt einer Zink-Tablette esse ich lieber etwas Hühner­fleisch. Der beste Vitamin-D-Liefe­rant ist immer noch die Fisch­le­ber. Wenn man täglich etwas Rohes, Gekoch­tes und Fermen­tier­tes auf dem Teller hat, werden alle wich­ti­gen Nähr­stoffe abge­deckt.

TM: Wir setzen auch ganz bewusst auf natür­li­che und unver­ar­bei­tete Lebens­mit­tel. In unser Älbler kommt zum Beispiel nur Mehl, Wasser, Hefe und Quell­salz. Dazu unser eige­ner Sauer­teig und der gut ausge­reifte Dinkel­vor­teig. Unse­ren Roggen, Weizen, Dinkel oder Hafer flocken wir in der Back­stube unmit­tel­bar vor der Teig­be­rei­tung frisch. Damit ist gewähr­leis­tet, dass die Nähr­stoffe und Aromen erhal­ten blei­ben. Koch- und Aroma­stü­cke sorgen für eine hand­werk­li­che und natür­li­che Frisch­hal­tung. Dafür brau­chen wir keine künst­li­chen Back­hilfs­mit­tel. Wir setzen Sauer­teig und Vorteige an und rösten alle Saaten und Körner selbst. Das ist auch das, was wir unter hand­werk­li­chem Backen verste­hen: einfach ein respekt­vol­ler Umgang mit den Rohstof­fen. Heut­zu­tage haben wir hier auch ganz andere Möglich­kei­ten als noch mein Groß­va­ter. Vermut­lich backen wir trotz aller tech­ni­scher Unter­stüt­zung mindes­tens so tradi­tio­nell wie mein Opa vor fast hundert Jahren.

TV: Bestimmt. Und auch das Wissen hat sich ja mitt­ler­weile weiter­ent­wi­ckelt. Wobei ich als Wissen­schaft­ler einge­ste­hen muss, dass Wissen alleine manch­mal nicht ausreicht. Ich könnte noch so viel übers Backen lernen und werde vermut­lich trotz­dem kein guter Bäcker. Mir ist schon der eine oder andere Rühr­ku­chen miss­glückt. Da bleibe ich lieber beim Kochen.

TM: Keine Sorge. Das Backen über­neh­men wir gerne für dich. Vielen Dank lieber Thomas, dass du dir die Zeit genom­men hast und heute mein Gast hier auf der Ofen­bank warst. Ich bin immer wieder beein­druckt von der großen Welt der Aromen und der Art, wie du davon berich­ten kannst. Danke­schön!

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