Die Kunden der Tafelläden gehörten zu den Allerersten, die die Einschränkungen der Corona-Krise mit aller Härte zu spüren bekamen. Denn mit den Geschäften schlossen Mitte März auch die Tafelläden. So auch in Tobias Maurers Heimatstadt Winnenden.
Ein Zustand, mit dem sich Bäckermeister Tobias Maurer nicht abfinden wollte. Also schrieb er dem Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth.
Dieser war sofort offen für das Thema und hat sich mit aller Kraft und Engagement für eine Lösung eingesetzt. Ein Chat-Protokoll – und was daraus wurde …
TM am 20.3. um 16:48 Uhr:
Wo die Tafeln nun geschlossen sind, frage ich mich: Wo kaufen die bedürftigen Leute künftig ein? Wie werden sie versorgt? Wir haben nach wie vor jeden Tag Ware am Abend übrig, die wir weiterhin sehr gerne zur Verfügung stellen.
OB am 20.3. um 17:05 Uhr:
Noch gibt es kein Konzept, da laut Tafel-Vorstand die Tafeln ehrenamtlich handeln und dort weder Öffnungszeiten noch Holdienst von den ehrenamtlichen Kräften abgedeckt werden können. Einige Sortimente sind zudem für die Tafeln nicht mehr erhältlich. Wäre es denkbar, dass Ihre Bäckerei sich für eine kleine Lösung mit einer vorhandenen Filiale für diesen Zweck einige Stunden am Tag für die andauernde Krisensituation einbringt? Leider wird das Personal ein Problem darstellen, da es schwer bis unmöglich sein könnte, Freiwillige zu finden, da ja genau deswegen der Tafelladen aufgehört hat. Was meinen Sie?
TM am 21.3. um 07:54 Uhr:
Ja, ich habe eine Idee. Das Problem ist ja nicht das Ladengeschäft, sondern das Personal, das die Waren verkaufen kann. Und das gehört leider mehrheitlich zur Risikogruppe. Nur wenn wir anderes Personal finden, könnte der Laden wieder laufen. Ich schlage vor, die Stadt ruft zu einer Hilfsaktion für die Schwächeren auf, damit diese wieder einkaufen und weiterleben können. Es gibt genügend Menschen in der Stadt, die vom Virus nicht ernsthaft betroffen sind. Da gehören sicherlich die momentan viel gescholtenen Jugendlichen von „Fridays for Future“ dazu. Diese Gruppe ist – organisiert durch den Jugendgemeinderat – sicher bereit, zu zeigen, dass sie nicht nur demonstrieren kann, sondern, wenn es gilt, auch sehr solidarisch zum Gemeinwohl beitragen und richtig mit anpacken kann! Verkauft wird ganz normal im Tafelladen. Der Weg ist bekannt. Die Einrichtung funktioniert. Es gibt sicherlich auch im Tafelladen-Verein einige Mitglieder, die im Moment Home-Office machen oder ganz zu Hause bleiben müssen. Die können diese jungen Leute anleiten und trainieren. Die, die den Transporter fahren können und danach schauen können, dass der Laden läuft! Ich bin mir sicher, das ist eine einfache, pragmatische und wirkungsvolle Aktion. Wir zeigen nach außen:
Wir in der Stadt gehören zusammen und halten zusammen !!! Das haben wir übrigens vor 11 Jahren schonmal gemacht !!!
Wenn wir das für andere als einfach kopierbares Konzept bereitstellen, werden andere Städte und Gemeinden dem Beispiel folgen und damit auch ihr „Tafel-Problem“ lösen können. Ich habe nicht geprüft, ob das rechtlich so laufen kann. Aber rechtliche Probleme sollten wir in der aktuellen Situation ohnehin hinten anstellen. Mir ist einfach wichtig, dass diejenigen, die sowieso schon abseits der Sonnenseite des Lebens stehen, weiterhin die Möglichkeit haben, ihren Tafelladen nutzen zu können.
OB am 21.3. um 10:50 Uhr:
Daran hatte ich auch schon gedacht, denn der Laden ist ja da. Nur brauchen wir die Zustimmung des Vereins. Wissen Sie etwas vom Tafel-Vorstand? Außerdem brauchen wir jemanden für die „lebensmittelrechtliche Qualitätssicherung“, denn die diesbezüglichen Vorschriften setzen wir ja nicht außer Kraft … Habe eben mit dem Tafelladen-Chef sprechen können. Er ist offen dafür! Werde nun noch unseren Jugendgemeinderat ansprechen, ob Bereitschaft da ist. Haben Sie jemanden für die „lebensmittelrechtliche Überwachung“?
TM am 21.3. um 12:14 Uhr:
Sehr schön, das hört sich doch toll an! Ich muss sehen, ob ich da jemanden gewinnen kann. Im Moment benötige ich allerdings alle Hände bei uns im Unternehmen. Bin selbst froh, wenn ich unser Unternehmen in dieser besonderen Zeit ordentlich am Laufen halten kann. Es gibt bestimmt jemanden, der sich auch sozial engagieren kann und möchte, evtl. gar bei der Lebensmittelüberwachung arbeitet oder in einer Kantine, die aktuell geschlossen ist. Da finden wir doch jemanden, oder?
OB am 21.3. um 12:28 Uhr:
Habe die Frage an den Jugendgemeinderat gestellt. Bleiben Sie bitte an der „Lebensmittel-Überwachungs-Frage“?
TM am 21.3. um 12:42 Uhr:
Habe jemanden gefunden, Frau Dollinger – hat früher bei uns im Betrieb externe Hygienekontrollen und auch Mitarbeiterschulungen durchgeführt und kann in jedem Fall die Mitarbeiter vor Ort schulen und mit ihnen die wichtigen Dinge besprechen. Hier ihre Mobilnummer …
OB am 21.3. um 12:51 Uhr:
Danke! Im Jugendgemeinderat wird gerade eine Umfrage vorbereitet. Sobald alles geklärt ist, können wir ein Treffen mit dem Tafel-Vorstand machen.
TM am 21.3. um 17:02 Uhr:
Sie können sich auch an die Führung der Sportvereine wenden. Ich glaube fest daran, dass es dafür genügend Personen gibt.
OB am 21.3. um 19:14 Uhr:
Frau Dollinger war heute bei einem Treffen im Tafelladen dabei. Der Tafelladen-Vorstand hat sich entschlossen, am Montag wieder zu öffnen. Er ergänzt sein Personal mit Freiwilligen des Jugendgemeinderats. Dazu macht die Stadtverwaltung mit dem Jugendgemeinderat eine Kooperation … 20 Jugendgemeinderäte machen nun mit und werden nun umgehend von Frau Dollinger in Sachen Hygiene eingewiesen.
TM am 21.3. um 20:41 Uhr:
Schön, dass das geklappt hat, Herr Bürgermeister – da werden sich die Leute sicher freuen. Und ich hoffe, dass unser Modell ganz schnell Schule macht.
Mithilfe des Winnender Jugendgemeinderats und dank des Engagements zahlreicher Jugendlicher und ehemaliger Jugendlicher 😉 konnte die Winnender Tafel schon am 26. März 2020 wieder öffnen. Mit dem schönen Nebeneffekt, dass viele Jugendliche erstmals mit den Tafeln in Berührung kamen und sich auch künftig für die gute Sache engagieren möchten.
Aus dem Konzept formulierten wir einen Leitfaden und stellten ihn der Tafel Baden-Württemberg e.V. und der Tafel Deutschland e.V. zur Verfügung. Was uns sehr freut: Viele Tafeln folgten unserem Beispiel und konnten ihre Tafeln mithilfe des „Winnender Modells“ wieder öffnen.
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