
Hätte Agatha Christie in den Goldenen Zwanzigern den Bahnhof von Winnenden betreten, hätte sie gewiss ein spannendes Mysterium inmitten dampfender Züge und hastiger Reisender erschaffen. Heute jedoch erzählt die Empfangshalle ihre ganz eigenen Geschichten, die ebenso faszinierend wie wohltuend sind – von goldenen Getreidefeldern, schnaufenden Lokomotiven und dem verführerischen Duft von frischem Brot. Das über 20 Meter lange Wandgemälde, das den Raum schmückt, nimmt seine Betrachter mit auf eine Reise durch die Zeit: vom ersten Korn, das vor 11.000 Jahren kultiviert wurde, über die Erfindung des Brotes bis hin zu den eleganten ICEs, die heute über die Schienen gleiten.
Die Gestaltung des Cafés vereint die klassische Eleganz eines Bahnhofs in Sydney, die Klarheit der Berliner U‑Bahn am Potsdamer Platz und den urbanen Charme der Pariser Métro. Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch die Wahl der Sitzgelegenheiten: Die grünen Polster erinnern an die luxuriösen Waggons des legendären Orient-Express. Sie verleihen dem Raum nicht nur Eleganz, sondern auch ein Gefühl von Nostalgie und Reiseabenteuer.

Der Leiter Bahnhofsmanagement mit dem Blick fürs Ganze
Mit der Präzision eines Zuges zur vollen Stunde tritt Nikolaus Hebding ein. Als Leiter Bahnhofsmanagement in der Region Stuttgart jongliert er Verantwortung für 93 Bahnhöfe und hält dabei die „3 S“ stets im Blick: Service, Sauberkeit, Sicherheit. „In Winnenden laufen täglich 11.000 Menschen durch den Bahnhof. Da wird jeden Tag geputzt, und alle zwei Wochen kommt der Hochdruckreiniger zum Einsatz,“ erklärt er mit einem geübten Blick durch die renovierte Empfangshalle.
Passenderweise kam er – wie es sich für einen Bahner gehört – mit der S3, die ihn direkt an sein heutiges Ziel brachte. „Bahnhöfe werden lebendig durch die Menschen, die sie nutzen, und durch Orte wie dieses Café. Hier wird gewartet, gestaunt und gelacht – das macht einen Bahnhof aus,“ ergänzt er mit einem zufriedenen Lächeln.
Seine Verbindung zur Bahn ist tief verwurzelt. Als dritter Eisenbahner seiner Familie spricht er fließend die Sprache der Gleise. „Mit 15 bin ich allein mit dem Zug nach Paris gefahren – ein großes Abenteuer,“ erzählt er mit einem Augenzwinkern. „Mit 19 ging es weiter nach Marokko, und später führte mich eine Weltreise über Moskau, Peking und Hongkong – natürlich alles auf Schienen.“ Doch so weit ihn seine Reisen auch führten, der Bahnhof Winnenden bleibt für Hebding ein Ort, der sein Herz erobert hat.

Tobias Maurer und die Geschichten von Brot und Bahn
Tobias Maurer, Brotsommelier und Bäckermeister, setzt sich hinzu und blickt auf das beeindruckende Wandbild. „Ich wollte etwas schaffen, das die Verbindung zwischen Brot und Bahn greifbar macht. Die Idee stammt aus Sydney, wo ich ein kunstvolles Zeitstrahl-Design gesehen habe. Hier im Bahnhof spiegelt das Bild die Geschichte wider – vom Getreideanbau bis zum modernen ICE.“
Auch bei der Auswahl der Einrichtung war Maurer detailverliebt. „Die grünen Sitzgelegenheiten sollten an die luxuriösen Abteile des Orient-Express erinnern – diese Verbindung zwischen Nostalgie und Eleganz wollte ich unbedingt einfangen.“ Für Tobias Maurer sind solche Details nicht nur Dekoration, sondern ein wesentlicher Teil der Atmosphäre, die Gäste einlädt, sich wie Reisende auf einer besonderen Zeitreise zu fühlen.
Für Tobias Maurer hat dieser Ort auch eine tief persönliche Bedeutung. „Mein Großvater, Gottlob Maurer, bewachte während des Krieges die Gleise und die Brücke über dem Buchenbach. Nach langen Patrouillen musste er oft direkt in die Backstube, um Brot zu backen. Seine Kameraden hielten ihm den Rücken frei, damit er wenigstens ein wenig Schlaf finden konnte.“ Die Verbindung zwischen seiner Familiengeschichte, dem Handwerk und dem Bahnhof machen diesen Ort für Tobias Maurer zu etwas Besonderem. „Ich wollte mit diesem Café nicht nur einen Treffpunkt schaffen, sondern auch einen Ort, der unserem Handwerk und der Historie gerecht wird.“

Elli Ackermann, das Herz des Bahnhofs
Elli Ackermann, die seit fast 60 Jahren im Bahnhof wohnt, hat in diesen Mauern so ziemlich alles erlebt. „Mein Mann war der Bahnhofsvorsteher, und 1965 zogen wir in eine der vier Wohnungen hier. Damals war es ein einfacher Ort: ein gusseiserner Ofen wärmte das Wohnzimmer, und der Schornstein führte durchs Fenster. Ein eigenes Telefon Für Tobias Maurer hat dieser Ort auch eine tief persönliche Bedeutung. „Mein Großvater, Gottlob Maurer, bewachte während des Krieges die Gleise und die Brücke über dem Buchenbach. Nach langen Patrouillen musste er oft direkt in die Backstube, um Brot zu backen. Seine Kameraden hielten ihm den Rücken frei, damit er wenigstens ein wenig Schlaf finden konnte.“ Die Verbindung zwischen seiner Familiengeschichte, dem Handwerk und dem Bahnhof machen diesen Ort für Tobias Maurer zu etwas Besonderem. „Ich wollte mit diesem Café nicht nur einen Treffpunkt schaffen, sondern auch einen Ort, der unserem Handwerk und der Historie gerecht wird.“ hatten wir nicht, aber durch das interne Telefon- Netz der Bahn war ich bestens verbunden. Oft habe ich von hier aus andere Bahnhöfe angerufen, um zu fragen, ob ein Zug schon abgefahren ist. Praktischer als jeder Fahrplan!“
Elli Ackermann erinnert sich mit einem Lächeln an die Zeiten, als der Bahnhof noch kleiner war. „Es gab nur zwei Gleise und keine Unterführung – eine Schranke regelte den Übergang. Später, in den 70ern, kamen das dritte Gleis und die Unterführung dazu.“ Die Räume des heutigen Cafés haben ebenfalls eine bewegte Vergangenheit. „Hier war früher sehr lange der Fahrkartenschalter. Ab und zu nutzten wir die Räume für Feste oder unsere Kinder haben außerhalb der Öffnungszeiten Tischtennis gespielt.“
Heute sieht Elli Ackermann das neue Café als Rückkehr zu den lebendigen Tagen des Bahnhofs. „Jetzt kommen wieder Menschen zusammen. Der Bahnhof fühlt sich wieder wie das Herz von Winnenden an. Und schöner waren die Räume noch nie.“
Der Abschied eines besonderen Tages
Die Uhr zeigt 16 Uhr 50, und der Tag neigt sich dem Ende zu. Nikolaus Hebding erhebt sich und verabschiedet sich, um die S3 zu erreichen, die ihn zu seinen nächsten Aufgaben bringt. Tobias Maurer wechselt noch ein paar Worte mit den Mitarbeitern und hilft mit geübten Handgriffen beim Aufräumen, bevor er sich auf den Rückweg in die Backstube macht. Elli Ackermann schlägt den vertrauten Weg zu ihrer Wohnung ein, die sie so lange ihr Zuhause nennt. Sie bleibt einen Moment stehen, um den Blick über den Bahnhof zu genießen – ein Ort voller Erinnerungen, die nun mit neuen Geschichten verwoben sind. Dann geht sie Schritt für Schritt die Treppe hinauf
Der Bahnhof Winnenden bleibt ein lebendiger Knotenpunkt – ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen, wie eine spannende Erzählung, die immer weitergeht.
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